Tränenreich

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Luisa

„ ... richte ihr bitte einen lieben Gruß von mir aus" irritiert sah ich ihm hinterher und bewegte kaum sichtbar meine Lippen. Warum wollte er gehen? Weswegen wollte er gehen? Wohin wollte er gehen? Er durfte nicht gehen! Um keinen Preis der Welt dürfte Marco einfach so aus der Wohnung gehen. Er war hier und musste hier bleiben. Klar war gleich mit Nicoles Rückkehr zu rechnen, wo auch immer sie steckte. Irgendetwas musste zwischen den beiden vorgefallen sein und meine Aufgabe war es rauszufinden was dies war. Man konnte mich nicht von meiner Meinung abbekommen, dass meine Schwester wegen Marco im Stadion war und nach dem Spiel sich getroffen hatten. Das Marco nun hier stand und offensichtlich auf Nicole wartete und sie hier suchte, war nur ein Beweis für mich. Schnell machte ich mich auf den Weg um ihm hinterher zu gehen. Ihn einzufangen. Ihn nicht gehen zu lassen. "Nein, Luca ist nicht ihr Kind". Ich konnte vorher schon am Tisch erkennen, dass es ihm Leid tat das Thema noch einmal aufzurollen. Am liebsten hätte ich in dem Moment laut aufgelacht, was der Situation absolut nicht dienlich gewesen wäre und darum schluckte ich es runter und mir schossen Tränen in die Augen. Erst weil ich das Lachen so verkniff, dann weil sich plötzlich ein Bild von meinen Eltern vor meinen Augen aufbaute. Dies schmerzte dann wirklich und zwar bis tief in mein Inneres. Mein Hass auf Nicole war echt, aber genauso meine Liebe zu meinen Eltern, die mir jeden Tag fehlten. Marco schien sehr unbeholfen zu sein und als er seine Hand ausstreckte um nach meiner zu greifen, stockte mir kurzfristig der Atem. Automatisch zog ich zurück, dabei wäre ich ihm nur allein für diese Geste um den Hals gefallen. Er hatte Nicole nicht verdient. Er war viel zu lieb. Was ein Grund mehr war ihn nicht gehen zu lassen. Ich versuchte das Gespräch wieder in Gang zu bekommen, doch die ganze Situation war viel zu angespannt. Als er dann aufstand und mir sagte, ich solle Nicole grüßen, war es wie ein Brett vor den Kopf zu bekommen. Ich konnte ihn erst an der Tür einfangen und weil mir nichts Besseres einfiel, gab ich ihm die noch schuldige Antwort. Es verfehlte nicht seine Wirkung, denn er blieb in seiner Handlung stehen und drehte sich zu mir um. Sein Blick brachte mich zum Zittern, solch eine Gänsehaut löste er aus. Tränen! Ich brauchte Tränen! Direkt dachte ich wieder an meine Eltern. Der einzige Grund in meinem Leben für diese Gefühlsregung, mit Erfolgsgarantie. Bedacht und jeden Schritt gut überlegt, sah ich traurig zu Boden, schluckte und vergaß das leise Räuspern nicht bevor ich weiter redete "unsere Eltern sind gestorben, kurz nach dem Luca zur Welt kam". Ich schlang meine Arme um mich selbst und sah von unten herauf ihn an, als hätte man mich ausgeschimpft und mein schlechtes Gewissen überschlug sich. Die perfekte Mischung also für eine extra Portion Mitleid. Vorsichtig und zögerlich legte er seine Hand an meinen Oberarm und sah mir tief in die Augen. Ich konnte die Hitze seiner Handinnenfläche durch den dünnen Stoff des Hemdes fühlen. Wieder zitterte ich leicht. Um es besser unter Kontrolle zu bekommen, biss ich mir von innen auf die Wange. "Du musst nicht darüber reden" hörte ich ihn flüstern und er lächelte mich aufmunternd an. "Ich wollte dir die Antwort nicht schuldig sein. Es ist ja auch schon 5 Jahre her. Also nächste Woche sind es 5 Jahre" ich stockte kurz und sah an ihm vorbei. Seine Augen hielten mich davon ab im Trauermodus zu bleiben und den brauchte ich doch um auf seiner Tränendrüse weiter rum zu reiten. "Die Zeit vergeht so schnell" ein Schlucken und das Wischen über die Augen nicht vergessen, sprach ich weiter. "Es ist wirklich nicht einfach. Ok, für Luca ist es etwas einfacher, da er unsere Eltern nie wirklich bewusst kennengelernt hat aber Nicole und ich schon" endlich kullerte eine Träne aus meinem Augenwinkel und ich sah ihm wieder mitten ins Gesicht und biss dabei auf meine Unterlippe. Ich hätte einen Oscar für diese Szene verdient. "Ich wusste nichts davon, es tut mir leid" seine Hand lag immer noch an meinem Oberarm und sein Daumen fing an über meine Gänsehaut zu streicheln. Mein Magen schnürte sich zu und mein Herz schlug mir bis zum Hals. "Nicole hat nichts davon gesagt?" unbedacht rutschte es mir über die Lippen, dabei wollte ich meine Schwester nicht zum Thema dieses Gespräches werden lassen, doch die Neugierde überstieg es. Zu sehr verwunderte es mich, dass Marco diesbezüglich überhaupt keine Ahnung hatte. "Nein, hat sie nicht"-"oh. Na ich dachte, dass hätte sie getan"-"nein, aber wir kennen uns ja auch erst kurz"-"na ich hätte gedacht sie sagt es dir gleich bevor ihr zusammen seid" wieder huschte dieses unwiderstehliche schiefe Lächeln über seinen Mund und ich hing an seinen Lippen, die mich träumen ließen. "Naja, ... ähm ... wir ... also wir sind ja nur Freunde" nun war der Augenblick gekommen, in dem mein Herz förmlich fast durch meine Rippen gesprungen wäre. Nur Freunde! Hallte es durch mich hindurch und die nächste Träne im Augenwinkel war eine Freudenträne. Mehr durfte ich kaum nach außen hin zeigen. "Oh ... wusste ich nicht ... dachte wäre was ernster" fing ich an rum zu stottern um nicht zu euphorisch zu klingen. Jetzt hieß es für mich, ihn weiter hier zu halten. Das Gespräch durfte nicht enden. "Wir reden nicht so viel. Seit dem Tod von unseren Eltern leben wir zwar gemeinsam aber doch jeder für sich. Luca teilen wir uns eigentlich auf aber es bleibt doch viel an mir hängen. Nicole arbeitet ja sehr viel und ist oft unterwegs. Dabei wünschte ich mir so oft, sie ... würde mal ... mit ... mir reden" der Rest des Satzes ging in einem theatralischen Schluchzen unter, das meine Augen zukneifen ließ und ich schlug mir die Hände vors Gesicht. Ich hatte mal gelesen, dass sich ein gequältes Lachen wie ein Weinen anhören würde. Schauspieler nutzen dies und ich nun auch. Ich hätte aber nie gedacht, dass Marco so rein fiel und im nächsten Moment hörte ich einen Herzschlag an meinem Ohr, was weich und warm gegen seine Brust gedrückt wurde. Es war von jetzt auf gleich nicht mehr möglich mein Schauspiel aufrecht zu halten, sein Duft vernebelte mir alles. Ich löste langsam meine Arme von der Brust und krallte mich vorsichtig in sein Shirt. Erst an der Seite, dann wanderten meine Finger weiter über seinen Rücken. Immer wieder musste ich mich erinnern, dass mein Geheul nicht aufhören durfte und ich zog in regelmäßigen Abständen meine Nase hoch, um sie dann wieder an seiner Brust zu vergraben. In meiner Brust brannte ein Feuer, was ich nicht richtig einordnen konnte. Es war eine Mischung aus dem was ich empfand wenn Marco ein Tor schoss und dem was passierte, wenn Timo mich berührte. Wenn er mich nackt berührte! Doch das Gefühl bei Timo kam nie an das was ich an Marcos Brust, die angezogen war, fühlte. Ich wollte sterben und von ihm nie wieder losgelassen werden. Niemals!

Ich, meine Schwester und MarcoWhere stories live. Discover now