»Die Tage hüllen sich immer mehr in Dunkelheit«, sagte Lara, vor allem, um Frau Braun zu ärgern, die irgendwie krampfhaft was gegen Gothics hatte. Da Lara Fernsehverbot und Internetverbot aufgebrummt bekommen hatte, sie fühlte sich wie 12!, musste sie sich ja irgendwie beschäftigen.
»Ach, Mädchen«, sagte Frau Braun. »Soll ich einen Arzt rufen? Wenn du mal mit einem Speziallisten sprechen möchtest?«
»Nein, danke.« Lara gähnte mit offenen Mund, was Frau Braun immer in so ne Art Ekelzustand versetzte. Sie zog dann ihre Schultern hoch und rümpfte die Nase, als würde aus Lara der Atem des Todes höchstpersönlich strömen. Lara fragte sich, wie es Herr Braun mit ihr aushielt, aber wahrscheinlich hielt er es nur aus, weil er als Arzt sowie so die meiste Zeit arbeitete.
»Was willst du denn für ein Kleid für heute Abend tragen?«, fragte Frau Braun, um vom Thema abzulenken. Lara unterdrückte nur schwer ein Grinsen. Heute Abend war so ne Art Weihnachtsball in der Schule. Für den Abend hatte sie schon einen Plan. Frau und Herr Braun würden diesem Ball nämlich beiwohnen, ganz aufopferungsvoll, um aufzupassen, dass sich niemand betrank. Es gab genau zwei Dinge, die Frau Braun abgrundtief verabscheute. Ersten: Gothik. Zweitens: Ihren Freund und Kyle. Die beiden waren schlechter Umgang für sie und Frau Braun hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Lara davon zu reinigen. Das hieß, seit dem Tag, an dem Sophie und Lara getürmt waren, durfte sie ihn nicht sehen, auch nicht anrufen. Natürlich tat sie es dennoch, wie hätte sie sich sonst den Plan zurechtlegen können? Punkt 19:00 würden Kyle, Bella – seine Neue Blüte und Cas in Gothikaufmachung und Heavymetal Musik an der Tür klingeln. »Weiß noch nicht«, antwortete Lara ihr. Dabei würde sie eines ihrer schwarzen Kleider nehmen, schräg abschneiden und sich schminken wie ein Todesengel. Sie lächelte in sich hinein. Es würde ein schöner Abend werden. Es musste ... denn nächste Woche kam ihre Mutter wieder – kuriert, wenn man den Psychiatern vertrauen schenken mochte. Lara vertraute ihnen nicht und bei den Gedanken Maike wiederzusehen, verspürte sie keine Vorfreude, ihr wurde bestenfalls übel. »Und du Sophie? Was macht ihr heute Abend bei deiner Freundin?« Sie schaute zu Laras Schwester, die auf dem hässlich dunkelgrünen Ohrensessel saß und es mit Hekeln versuchte. »Wir wollten erst ein bisschen Mathe lernen und dann einen DVD Abend machen. Die Supernanny und sowas«, log sie, ohne rot zu werden. Ihn Wahrheit ging sie mit Laura und ihrer Mutter den neuen Zombiefilm im Kino anschauen, der ab zwölf war. Frau Braun hätte das niemals erlaubt, sondern so etwas wie »elf ist elf und nicht zwölf« gesagt.
Frau Braun nickte anerkennend. »Was schreibst du für Klausuren in der nächsten Woche, Lara?«
Lara wusste es nicht. Es kümmerte sie kaum. Sie glaubte sowie so nicht mehr daran, in die dreizehnte versetzt zu werden. Ihr fehlte die Motivation, sie wusste nicht, was sie studieren wollte. Um ehrlich zu sein, wusste sie gerade noch nicht mal, wer sie war. Irgendwie steckte sie fest zwischen dem Leben mit Sophie und bald auch mit Maike und dem neuen Leben, welches sie sich wünschte, von dem sie aber nicht wussten, wie es aussah. Ihr inneres Bild von sich sah total brüchig aus. Überall verliefen Risse durch ihre Haut und darunter glitzerte etwas wunderbar rot. Lara nannte es Leben. Nicht Tod, Leben! Um halbsieben schloss sie sich schon mal ins Bad ein. Sie würde erst rauskommen, wenn Cas, Kyle und Bella klingelten. Lara zog sich das hautenge, schräg abgeschnittene Kleid an, fuhr mit weißem Puder über ihr Gesicht und Hals, und mit Eyeliner und Wimperntusche über ihre Augen. Es sah erstaunlich gut aus, fand sie. Der Kontrast von Weiß und Schwarz – weißes Gesicht, dunkel Augen, schwarze Haare und das Kleid ... Sie fühlte sich richtig weiblich darin und es betonte ihren schlanken, athletischen Körperbau. Lara malte ihre Lippen rot an und machte einen Kussmund. Dann drehte sie sich einmal vor dem Spiegel. Die Haare ließ sie offen, kämmte sie aber gut glatt. Sie warf einen Blick auf ihre Handyuhr. Noch zehn Minuten. Lara kletterte auf den Badewannenrand und schaute aus dem hohen Fenster. Sie musste nicht lange warten, da erkannte sie Cas Ford, und Kyles Golf die Straße hochfahren. Sie biss sich voller, freudiger Erwartung auf die Unterlippe und wartete auf das Geräusch der Türklingel. Trrrr.... Trrrrrrrrrr..... Ein wunderbar erlösendes Geräusch. Sie lauschte angestrengt auf die Schritte von Frau Braun, wartete noch fünf Sekunden, schnappte sich ihre Handtasche und stürmte in den Flur. Das Gebrüll einer Metallband schlug ihr entgegen. Cas sang lautstark mit. Dabei sah er einfach nur umwerfend aus. Er trug eine schwarz gefärbte Jeans, ein zerschlissenes Muskelshirt und einen weiten Mantel. Frau Braun stand nur mit offenen Mund da. Kyle nahm einen großen Schluck aus seiner Wodkaflasche und fasste Bella an die Brüste. Er sah noch viel schlimmer aus. Hatte sich ein gefaktes blaues Auge gemacht und sich ein Pentagramm auf den freien Unterbauch gekritzelt. Darüber trug er seinen Parker. Lara fröstelte schon, wenn sie ihn nur sah. Bella, in einem echten Gothikkleid, lächelte breit, zeigte dabei ihr Zungenpiercing und spielte mit einem Pentagramm an einer Lederkette. »DEATH, DEATH, DEATH!«, brüllte Cas im Rhythmus des Schlagzeuges. Kyle hatte extra Boxen auf seinen Wagen aufgestellt. Lara lachte laut und zog sich schnell ihre Stiefel und den Mantel an. »Komm Herr, du süße Teufelsbraut!«, grölte Kyle.
»Ey, das ist meine«, sagte Cas und zog sie zu sich. »Hallo, Baby.« Er küsste sie tief und innig. Lara konnte Frau Braun keuchen hören. »Lass sie los!«, kreischte sie.
»Death, death, death!«, sang nun Kyle mit und warf dabei die Fäuste in die Luft. Die Wodkaflasche fiel ihm dabei aus den Händen und der Inhalt breitete sich vor Frau Brauns Füßen aus. In diesem Moment tat es Lara ein klein wenig leid. Die arme Frau wolle auch nur ihren Job machen. Aber Lara wollte den Abend genießen und sich von niemanden etwas vorschreiben lassen.
»Du kommst jetzt mit!« Frau Braun machte einen Schritt nach vorne und packte Lara am Handgelenk. Doch sie riss sich geschickt los. »Nein! Das sind meine Freunde.«
»Ich hole die Polizei!«, quietschte sie und verschwand im Haus.
»Schnell«, kicherte Kyle. Sie packten ihre Sachen zusammen. Lara sprang zu Cas ins Auto und dann fuhren sie laut lachend los.Auf dem Ball, mehr eine Party, wurden sie erst Mal angestarrt. In dem Raum, der über und über mit weißem Glitter und Lichterketten behängt war, stachen sie heraus als würden sie neongrün leuchten. Nur leuchteten sie schwarz und leichenweiß. Kuschelrock plätscherte aus den Anlagen, die an der Galerie hoch über ihnen hingen.
»Na dann«, sagte Kyle und mischte sich mit Bella unter die Tanzenden, die ihnen bereitwillig Platz machten. »Menschen habe zu viele Vorurteile«, seufzte Cas und reichte ihr seine Hand. »Lust auf einen gemütlichen Tanz?«
Sie nickte und legte ihre Hand in seine. Er führte sie zur Tanzfläche und sie fühlte sich glücklich. Irgendwann würden sie auf ihrer Hochzeit so tanzen. Ganz bestimmt. Die Musik ließ sie ganz ruhig werden und alles schien wie in Watte gepackt. Cas konnte ganz gut tanzen und führte sie sicher durch die Musik. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen, als könnte sie sich plötzlich in Luft auflösen. Aber das würde sie nicht. Dafür fühlte es sich viel zu gut an, bei ihm zu sein.
Dad, siehst du das?, schickte sie ein Gebet in den Himmel. Ich tanze mit dem Jungen, den ich liebe auf einem Schulball. Die Lichter umgaben sie wie Sterne und so drehten sie sich weiter in die Unendlichkeit ihres ganz persönlichen Glücks. Sie würde ihn nie mehr hergeben, diesen Jungen ...
»Lara!«, unterbrach eine wohlbekannte Stimme diesen besonderen Moment. Sie seufzte und verließ mit Cas die Tanzfläche. »Was willst du, Carlo?«, fragte sie genervt. Carlo neigte den Kopf und kaute auf seiner Unterlippe. Er trug ein weißes Hemd und eine teure Stoffhose. »Scheiße, man«, nuschelte er. Dann deutlicher: »Ich habs dir doch gesagt. Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht mit ihm anlegen!«
»Was?« Lara runzelte die Stirn. »Von wem sprichst du? Primo? Der hat sich nicht mehr blicken lassen.« Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, überkam sie das Gefühl heißer Wut und eine leise Ahnung.
»Ich hätte nicht wissen können, dass er so weit geht.« Carlo fuhr sich über das pickelige Gesicht. »Es tut mir leid.«
»Was ... sagst du da?« Lara schluckte einen schweren Kloß herunter. »Was hat Primo getan?!«
»Bitte, lass ihn in Ruhe. Leg dich nicht mit ihm an!«»Er ist dafür verantwortlich ... natürlich ist er das!« Lara schlug sich mit der flachen Hand vors Gesicht. »Wieso hab ich es nicht gleich gesehen? Die Polizei ermittelt noch nach der Ursache ... « Ihr wurde kotzübel. »Susi wäre fast gestorben«, sagte sie leise. »Sie ist wie eine Tante für mich und Sophie war da drin, meine Schwester.« Sie riss die Augen auf und starrte Carlo direkt ins Gesicht. »Susi wird nie wieder laufen können, kapierst du das?! Ich werde dafür sorgen, dass dein Bruder lange weggesperrt wird. LANGE LANGE LANGE!!!!« Sie ballte die Hände zu Fäusten und wollte auf ihn losgehen, aber Cas hielt sie zurück. »Lara, beruhige dich ... er war es nicht. Lara, Carlo wars nicht.«

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Scherbenbild
General FictionLara verliert ihren Vater, der nach einem Unfall hirntot ist. Cas(♂) Mutter bekommt sein Herz und eine neue Chance, doch sie scheint schon lange dem Tod zu gehören. Laras und Cas Liebesgeschichte beginnt an einem Ort der Hoffnung und der Verzweif...